Einleitung

Unsere Mitarbeiterin Sabrina Kiel hat als Projektleitung für die Themen der ambulanten Pflege Marcel Müller-Rechenbach, den Regionalverantwortlichen Süd-Ost bei der aiutanda, zu einem Interview eingeladen. In diesem ersten Teil der dreiteiligen Serie geht es um das allgemeine Stimmungsbild nach den Herausforderungen des GVWG und der Corona-Pandemie. Außerdem diskutierten sie, welche Veränderungen es bei der Patientenaufnahme gegeben hat, wie sich die Situation im Bereich Immobilien und Zinsen entwickelt hat und welche spürbaren Veränderungen beim Personal zu verzeichnen sind. Informieren Sie sich über aktuelle Entwicklungen und erfahren Sie, wie die aiutanda-Gruppe diesen Veränderungen begegnet.

Portrait von Marcel Müller-Rechenbach, Regionalleiter Süd-Ost der aiutanda GmbH

Vorstellung der Person

Marcel Müller-Rechenbach ist verheiratet und Vater dreier Kinder. Er ist seit 2000 in der Pflege tätig, gründete 2010 sein Unternehmen, die Pflege mit Leidenschaft GmbH. Im Mai 2019 schloss sich Marcel Müller-Rechenbach der aiutanda GmbH an.

Als Regionalleiter Süd-Ost und Geschäftsführer der aiutanda PflegeBienen ist er mit seinen 39 Standorten ein bedeutender Teil der Gruppe.

Allgemeines Stimmungsbild nach GVWG und Corona in der Gruppe

M: Ich muss wirklich sagen, dass Corona für die Pflege herausfordernd war. Ich fand den Gegensatz in der Zeit sehr spannend, wenn ich von Freunden und Bekannten gehört habe, wie viele Menschen diese Zeit trotz aller Unsicherheit auf der persönlichen Ebene für sich sehr nutzen konnten. Die einen haben mehr „gesportelt“, die anderen haben festgestellt, wie schön es ist, nicht alleine in einer Wohnung zu leben.

Man hätte anders aufeinander blicken können. Ich bin stolzer Vater von drei Kindern und es war spannend zu sehen, was sie eigentlich in der Schule machen und was sie dafür tun müssen. Auf der anderen Seite war es in unserer Branche sehr anstrengend. Wir haben einen unserer wesentlichen Unternehmensschwerpunkte in Sonneberg und das war eine ganze Zeit lang der Hotspot zum Thema Corona. Und in der Zeit, in der so viele Ängste transportiert wurden, dort vor Ort sein zu müssen – was aus meiner Sicht in der Pflege absolut erforderlich ist – hat sich gänzlich anders angefühlt.

Deswegen war es eine sehr herausfordernde Zeit, die uns alle in der Pflege, nicht zuletzt durch die Frage der Impfung, unglaublich zusätzlich in Schwierigkeiten gebracht hat. Den Tanker durch die Zeit von Corona zu steuern war eine echte Herausforderung. Ich weiß heute, wenn ich in Ruhe auf die Dinge schaue, gar nicht mehr, warum ich glaubte, dass es danach alles wieder schön und wunderbar wird und sich die Dinge wieder einschwingen.

Auf der anderen Seite war es zu dem Zeitpunkt so, dass die wirtschaftliche Unterstützung im Ausgleich fair war. Es hat in der Pflege zusätzliche Aufwendungen gegeben. Das ganze Thema der Desinfektion und Hygieneschutzmaßnahmen. Zusätzlicher Verwaltungsaufwand für die Beantragung von Geldern und die Dokumentation. Dazu kommen Inflation und hohe Energiekosten. Das hat uns schonmal richtig gekostet. Und dieser Umschwung von 100% Rettungsschirm zu null und gleichzeitigem Abfluss von Energiekosten in Inflation, die wir nicht refinanzieren konnten und auch nicht mit den Kassen ausgleichen konnten, war extrem.

Das, was GVWG ohne eine Budgeterhöhung gebracht hat, ist eine Vollkatastrophe. Das kann man nicht anders sagen. Es sind drei bzw. mittlerweile fast vier Jahre, die so schwierig sind, dass uns Leute verlassen, weil sie nicht mehr wollen oder können.

Weitere Veränderungen sehen wir in der Patientenaufnahme und -versorgung. Ich sag mal so, ein Mensch braucht irgendwann Hilfe und dann fängt er mit ein bisschen hauswirtschaftlicher, niedrigschwelliger Unterstützung an. Dann kommt der ambulante Dienst dazu. Dann wird die Tagespflege hinzugezogen. Vielleicht ist betreutes Wohnen irgendwann ein Thema. Wir haben die Logik nicht mehr.

Patientenaufnahme: Was hat sich verändert?

M: Das ist heutzutage sehr komplex, da bei einem Einzug nicht mehr 2-3 Leute ein Zimmer besichtigen und einziehen, sondern 20 bis 30. Es werden Verträge unterschrieben und auf der Heimfahrt widerrufen, weil den Menschen bewusst geworden ist, wie hoch der Eigenanteil ist. Wenn wir mit Sozialämtern Kontakt haben, dann wird da monatelang das Verfahren verschleppt. Wenn wir Klienten haben mit der 4 oder 5 wird gesagt, dass die nur noch ins Stationäre gehen. Es gibt Klienten, die zum Einzug angemeldet sind und dann verschwinden, weil das Sozialamt sie umgeleitet hat. Ambulant vor stationär gibt es in der Realität nicht.

Wir haben eine geringere Abrufquote von Pflegeleistungen, weil es sich die Menschen nicht leisten können. Wir haben eine geringere Auslastung, weil die Leute weniger einziehen und länger zuhause bleiben. Wir haben höhere Fluktuationen, weil sie später einziehen, hinfällig sind und nur noch zum Versterben einziehen. Das ist ein Konglomerat, wo man wirklich sagen muss, dass es nach der Zeit eine Vollkatastrophe ist.

Die Menschen sind nicht weniger hilfsbedürftig als vor ein oder zwei Jahren. Wir haben es im letzten Jahr gespürt, insbesondere in Tourenpflegediensten, dass die Menschen im häuslichen Umfeld regelrecht vernachlässigt waren. Aufgrund der Punktwerterhöhungen und der damit steigenden Anteile ist es vielen einfach nicht mehr möglich, die Pflege zu beauftragen, die sie wirklich brauchen, sondern nur noch das Allernötigste. Mit hohen Eigenanteilen zwischen 2.500-3.000€ kann sich das kaum ein Pflegebedürftiger leisten.

Wir kommen an die Klienten viel später und die Klienten rufen nicht mehr das ab was sie brauchen, sondern rufen das ab, was sie sich halbwegs leisten können.

Diese Natürlichkeit, die ich vorhin beschrieben habe – der Hilfsbedarf steigt langsam, dann kann man langsam unterstützen, das strukturiert man gut, da macht man mal ein Pflegetagebuch zu Hause – das ist das, was es eigentlich braucht. Das, was wir gerade machen, wird am langen Ende für die große Katastrophe sorgen, weil es nicht kontrollierbar ist.

Immobilien und Zinsen

M: Und dann kommt noch der andere Teil dazu und das sind Immobilien und Zinsen und die sind natürlich ein riesiger Druck. Wir können uns eigentlich bei Neubauten nur noch nach geförderten Projekten strecken, weil du den Euro natürlich nur einmal ausgeben kannst. Und wenn du schon einen hohen Eigenanteil bei Pflege ausgegeben hast, kannst du ihn nicht noch bei gesteigerten Mieten ausgeben.

Gibt es spürbare Veränderungen beim Personal?

M: Von daher war GVWG der letzte Rest, den es gebraucht hat, dass ich sogar auf der Verwaltungsebene Mitarbeiter verliere. Sie sagen, wir hören es jeden Tag im Fernsehen. Wir erleben, dass wir noch halbwegs vernünftig Ergebnisse schreiben, aber von Sozialämtern ein Dreivierteljahr lang nichts kriegen, eine Verhandlung ein Jahr verschleppt wird und erst dann Geld kommt und wir viel mehr an Forderungsmanagement tun müssen. Die Mahnquote ist signifikant höher.

Ich habe noch nie so schnell und so viele Leute im Verwaltungs- und Organisationsbereich verloren wie in den letzten 12-18 Monaten. Auf der anderen Seite haben wir noch nie einen so starken Zustrom gehabt wie am Anfang von Corona und das in einem Mikrokosmos von 36 Monaten. Das ist verrückt.

Über die Autorin

Sabrina Kiel

Seit 2021 bin ich bei der Sehner Unternehmensberatung tätig und leite Projekte im Bereich der ambulanten Pflege. Mit über drei Jahren Erfahrung im Pflege- und Gesundheitssektor bringe ich umfassende Fachkenntnisse in meine Arbeit ein. Vor meiner aktuellen Position war ich beim Hamburg Center for Health Economics sowie bei KPMG Audit Corporate Health Care tätig, wo ich wertvolle Erfahrungen und Einblicke in die Gesundheitswirtschaft sammelte.